versäume nie zu denken, was gedacht werden muss versäume nie zu sagen, was gesagt werden muss versäume nie zu tun, was getan werden muss
rue - oktober 2017
WAHRENKÖRBE Januar 2019
Willkommen im „Neuen Jahr“ 2019. Willkommen im Reich der Preiserhöhungen.
Willkommen in einem der vielen Wahrenkörbe, nein, Warenkörbe. Natürlich. Aber
wahr sind sie schon. Und wahrlich ärgerlich ist es, was die Preisspirale so mit
ihnen treibt. Mit ihnen, diesen Warenkörben.
Für uns alle habe ich ein wenig gerechnet. Ein wenig Wahrheit errechnet. Und
egal, in welchem Warenkorb, nein, nun wieder Wahrenkorb wir sitzen – die
Wahrheit ist die gleiche – oder die selbe. Je nachdem, ob man sie von links
oder rechts, oder von gestern oder heute aus betrachtet.
Wohnen
– mit 32% Anteil der größte Warenkorb am Verbraucherpreisindex – hat erneut
ordentlich zugelegt. Meint man. Meine Wohngebäudeversicherung ist um 4% teuerer
geworden. Dafür aber hat meine Hausratsversicherung leicht verloren. Das
gleicht sich scheinbar aus. Zins und Tilgung sind stabil geblieben – warum auch
? Klar. Diesen monatlichen Betrag steuere ich selbst. Wenn also mein
Löwenanteil von 32% gar keine inflationäre Entwicklung genommen hat, dann
müssen andere Körbe prozentual gesehen deutlich mehr zugelegt haben.
Wie
wahr, nein wie war, nein wie wäre es hier mit Verkehr ? Der Liter Sprit wurde
im letzten Jahr um 8% teuerer, so zumindest sagt es mein privates Fahrtenbuch,
der Reifenwechsel um 11%, die KFZ-Versicherung um 2%, das MAXX-Ticket meiner
Kinder um 3%.
Freizeit,
Unterhaltung und Kultur entwickeln sich, wenn aufgrund der oben genannten
gestiegenen Positionen weniger Geld „zum Leben“ bleibt, zwangsläufig nach unten
– und korrigiert die Inflationsrate erneut in Richtung Deflation. Da wird also
im Kino schnell mal statt der großen Tüte Popcorn die kleine gekauft und bei
Burger King gibt es statt des Whoppers nur noch den doppelten Cheeseburger, im
Menu, versteht sich, denn dann ist auch gleich noch getrunken. Und am Trinken,
so sagte meine Mutter immer, wird nicht gespart. Ob man nun Fast-Food - Food in
den Freizeit- oder Kulturbereich zählt, ist eine andere Frage. Aber einmal im
Monat zu Burger King, das muss schon sein dürfen. Man gönnt sich ja sonst
nichts.
Steigt der Preis einer Brezel von 60 auf 65 Cent, so sind das ebenfalls
schlappe 8%. Und von einer Brezel im Monat wird eine Familie nicht annähernd
satt. Klar, dann kaufst du eben Vollkornbrot. Da hast du mehr vom Geld. Das ist
gesünder. Schmeckt besser. Du isst mehr davon. Und zack – hast du auch hier
nichts gespart und nimmst zu, während dein Porte-Monnaie mehr und mehr hungert
...
Möbel und Kleidung werden sicher nicht zwangsläufig teuerer. Aber die Schuhe
aus dem letzten Frühjahr passen schon wieder nicht mehr. Der Vorratsschrank ist
leer und dann erwischt sie dich wieder, die Wahrheit, die dich ein, nein gleich
zwei oder drei Paar Schuhe kaufen lässt.
Prozentual
gefühlt steht im Ergebnis das, was wir längst alle denken: Zwei Prozent
durchschnittliche Inflation im Jahr reichen längst nicht aus, denn in meinem
privaten Warenkorb liegt eine ganz andere Verteilung vor, als in dem, der die
Durchschnittsbevölkerung erfasst. Aber bin ich so über- oder
unterdurchschnittlich ? Wohl kaum. Rechnet man aus den prozentualen
Teuerungsraten auf Euro-Beträge hoch, sind das pro Monat für Lebensmittel,
Benzin & Verkehr sowie Versicherung weit über 100,- Euro mehr als im
Vorjahr.
Nun
will ich mich nicht beklagen. Ich verkrafte sie, diese Warheit. Billig waren
die Preise, teuer ist es geworden – das Leben. Die Wahrheit aber möchte ich mit
all denen nicht verkraften, die jeden Monat auch eine Brezel, einen Liter
Benzin oder eine schnucklig kleine Versicherung kaufen und deutlich weniger
verdienen, als ich das tue. Ich frage mich immer wieder, wie „die“ das
schaffen, wenn „ich“ das nicht völlig schmerzlos wegstecken kann.
Nein, in meiner Rechnung sind noch keine Krankenkassenbeiträge gestiegen,
Schullandheime bezahlt oder Urlaubsreisen gebucht. Glücklich darüber, dass ich
mir „das“ alles in Maßen nach wie vor leisten kann, habe ich vollstes
Verständnis dafür, dass die Zähne anderer Menschen auch mal schwarz bleiben,
das Kind zuhause bleibt oder der Billigflieger nach „Spallorca“ gebucht wird.
Erschütternd
indes ist, wie der statistische Wahnsinn uns Konsumenten tagein, tagaus, immer
wieder so täuscht, dass wir dies gar nicht wirklich entlarven können. Ein
kleines Beispiel hierzu: Ich habe in den letzten drei Monaten als einer von 60
000 Haushalten in Deutschland ein Haushaltstagebuch geführt, das am Ende mehr
oder weniger „verwertet“ oder „verwendet“ in Form einer schicken Statistik in
einem meiner Schulbücher erscheint: Paare mit Kind oder Kindern geben nach
einer Studie aus dem Jahr 2013 mit 1,95% der monatlichen Ausgaben mehr Geld für
Bildung aus als Paare ohne Kind – nämlich 67 statt 10 Euro im Monat. So weit.
So gut. Seit dem Führen meines eigenen Haushaltsbuchs weiß ich, dass das, was
für mich eigentllich Bildungskosten sind, aus statistischer Sicht in diesem
Bereich gar nicht erfasst wird. In anderen Worten: Keine Bleistifte, keine
Hefte, kein Schulbusticket, keine Deutschlektüre, kein Schullandheim – alles
keine Bildungskosten, sondern Unterhaltung, Kultur und Freizeit. Bildungskosten
entstehen durch Kosten für Privatschulen oder Weiterbildung. Einbildung ist
auch eine Bildung, denke ich mir da. Kostenlos. Wenn es denn so sein soll,
okay. Aber - ist dem wirklich so ? Keine Angst, dafür gibt es doch Kindergeld,
mit dem all diese genannten Kosten mehr als abgegolten sind. Und das Kindergeld
steigt natürlich auch – wenn auch erst ab Mitte des Jahres ...
Vorsicht, Menschheit. Sie kommt die Wahrheit. Holt uns ein – oder überholt uns,
wenn sie es nicht längst getan hat. Das Leben ist teuer, nur der Tod ist
umsonst und der selbst kostet wiederum auch, wie ein altes Sprichwort sagt, das
Leben.
Wahrheit ist nicht, was uns Statistiken oder Nachrichtensendungen vorgaukeln.
Wahrheit machen wir selbst. In meinen Warenkorb für unser und euer Jahr 2019 lege ich einen Berg guter Wünsche, Glück,
Zufriedenheit und noch ein klein wenig Gesundheit. Mein Warenkorb ist kostenlos
– und er bleibt es. Und dennoch ist er kostbar. Kostbarer, als manch andere
Wahren-, nein Warenkörbe ...
aus:
RUE – Wirtschaft für Einsteiger Januar
2019
HIER IST PANAMA Weihnachten neu erzählt Dezember 2018
Als
der kleine Tiger und der kleine Bär eines Abends vor ihrem kleinen Kamin saßen,
fragte der kleine Tiger den kleinen Bär:
„Kleiner Bär, wohin müssen wir
eigentlich reisen, um den roten Weihnachtsmann zu treffen ?“ –
„!ch
weiß es nicht, kleiner Tiger. Ich habe überhaupt keine Idee, wo wir den roten
Weihnachtsmann treffen können. Ich weiß auch gar nicht, ob es ihn überhaupt
wirklich gibt. Und schon gar nicht, ob er rot ist“, entgegnete ihm der kleine
Bär.
„Das ist aber seltsam, kleiner Bär“,
sprach der kleine Tiger. „Jeder tut so, als wisse er nichts. Keiner weiß, ob er
etwas weiß und der alte Rücken kratzt mir auch schon gewaltig vor Weißlosigkeit.
Aber kleiner Bär. Es muss ihn geben. Und er muss rot sein !“ –
„Warum
bist du dir da so sicher ?“ –
„Na schau mal, hier in all den Büchern
und auf all den Bildern. Immer hat er eine rote Jacke an, rote Hosen, eine rote
Mütze, und zudem trägt er einen weißen Bart. Den gleichen weißen Bart, den er
schon letztes Jahr getragen hat. Und vorletztes Jahr. Und vorvorletztes Jahr.
Und vorvorvorvorvorvor ...“ –
„Aber
kleiner Tiger, wenn der Bart jedes Jahr auf den all den Bildern weiß war, dann
muss der Weihnachtsmann schon sehr alt sein.“ -
„Millionen Jahre alt. Oder Milliarden. Oder
Willionen oder Williarden. Wir wissen es nicht genau. Aber - aber dann muss er
auch ganz weit gereist sein. Und wenn er dauernd unterwegs ist, dann erklärt
das auch, warum seine Kleider so rot sind. Rot ist ein Zeichen des Alters. Seine
Kleider sind so rot, die bekommt kein Waschpulver der Welt mehr nichtrot.“ –
„Nein,
nein, kleiner Tiger. Rot ist nicht die Farbe des Alters. Rot ist nicht
schmutzig, rot ist nicht düster. Rot ist die Farbe der Sehnsucht, der Liebe,
der Geborgenheit. Rot ist eine strahlende, eine leuchtende, eine warme Farbe.
Alles was rot ist, hat Kraft. Auch Herzen sind rot. Herzen haben Kraft. Und die
Blumen in unserem Garten. Ich liebe sie, diese roten Blumen. Rote Blumen sind
schön. Rote Blumen haben Kraft.“ –
„Aber wenn Rot kein Zeichen des Alters
ist, dann weiß der Weihnachtsmann ja auch nicht, was Liebe ist. Und wer nicht
weiß, was Liebe ist, der lebt nicht. Dann gibt es den Weihnachtsmann ja doch
nicht.“ –
„Ach
kleiner Tiger. Das mit dem Alter und mit der Liebe ist nicht immer ganz
einfach. Wir werden ihn einfach suchen, den Weihnachtsmann. Und wir werden ihn
fragen, wie das so ist, mit dem Alter und der Liebe, und dem Rot. Und so.“
So
machten Sie sich auf den Weg, um den Weihnachtsmann zu finden. Sie fuhren mit
dem Bus. Gleich nach dort, um die Ecke. Dort war es schön, doch den
Weihnachtsmann fanden sie nicht. Dann nahmen sie den Zug und reisten in die
nächste Stadt. Dort war es noch schöner, doch den Weihnachtsmann fanden sie
nicht. Mit dem großen Schiff querten sie den großen Ozean. Und dort, wo sie
wieder an Land gingen, war es noch viel schöner. Aber auch dort gab es keinen
Weihnachtsmann. Sie stiegen in ein großes Flugzeug und flogen bis nach
Irgendwo. Noch viel viel viel viel schöner war es dort. Aber der Weihnachtsmann
? Den fanden sie nicht. Sie bauten sich Raketen und reisten von Planet zu
Planet. Das muss man erlebt haben. So etwas hat man noch nicht gesehen. Keiner
weiß, wohin die Reise geht. Nach hier und da und hier und dort und so und
überhaupt. Weit weg. Hinaus in die Welt. Nach da, wo es am
allervielstenschönsten war. Aber schon gar keinen Weihnachtsmann gab.
Verwundert
sprach der kleine Tiger:
„Ach kleiner Bär, das ist alles so
traurig. Wir waren überall, aber gefunden haben wir ihn nicht, den
Weihnachtsmann.“ –
„Das
stimmt, kleiner Tiger. Vielleicht haben wir nur nicht richtig nach ihm gesucht.“
–
„Und was machen wir jetzt ?“ –
"Ich
weiß es nicht. Wären wir in Panama, dort würde ich mich auskennen. In Panama,
da ist es schön. Das weiß ich. Da war ich schon !“ –
„Ach, kleiner Bär, lass uns umkehren.
Wir sind schon seit Ewigkeiten unterwegs. Mein Magen knurrt und dein Magen
knurrt und es wird Zeit, dass wir unserer kleinen Hütte endlich wieder einmal
„hallo“ sagen.“
Traurig
machten sie sich auf den Nachhauseweg. Zuerst mit den Raketen, dann mit dem
Flugzeug, dem Schiff, dem Zug, dem Bus und zuletzt zu Fuß.
„Sieh
mal, kleiner Tiger“, sprach der kleine Bär „dort vorne steht unsere Hütte. Sie
ist nicht weggelaufen. Sie hat auf uns gewartet. So wie damals, als wir nach
Panama gingen.“ –
„Jetzt brauchen wir gar nicht mehr nach
Panama, kleiner Bär“ erwiderte der kleine Tiger. „In Panama waren wir schon und
egal wo wir sonst noch wären, den Weihnachtsmann gibt es nicht. Denn wenn es
ihn gäbe, hätten wir ihn gefunden.“ –
„Und
weil wir ihn nirgendwo gefunden haben, gibt es ihn auch nicht!“ –
„So ist es, kleiner Bär. Hier bleiben
wir. Hier sind wir zuhause. Hier ist Panama!“
Die
Tür ihres kleinen Hauses stand einen Spalt weit offen. So, als wäre jemand in
ihrem kleinen Haus gewesen, damals, oder erst gestern oder gerade eben. –
„Kleiner
Tiger, warum hast du die Tür offen gelassen, als wir damals oder gestern oder
gerade eben aus dem Haus gegangen sind ?“ –
„Ich habe die Tür nicht offen gelassen.
Das musst du gewesen sein !“ –
„Niemals,
kleiner Tiger. Ich habe noch nie vergessen, die Tür hinter mir zu schließen!“ –
Es
brauchte schon etwas Mut, den ersten Schritt in ein unverschlossenes Haus zu
wagen, vor allem dann, wenn man es Stunden, nein Tage, nein Monate, unbeachtet
zurück gelassen hatte. Doch dann fassten sich beide ein Herz und schoben die
Tür ganz vorsichtig etwas weiter auf.
„Sieh nur, kleiner Bär. Auf dem
Fußboden sind rote Fußabdrücke. Und dort vorne an der Wand hängen rote Sterne.
Auf den Möbeln liegt roter Staub und gleich neben dem kleinen Kamin gibt es
zwei kleine rote Geschenke!“ –
„Aber
kleiner Tiger – ich weiß jetzt, warum wir den Weihnachtsmann nirgends finden
konnten. Er war hier. Hier, in unserer kleinen Hütte!“ –
„Ja“, sprach der kleine Tiger, „manchmal
muss man gar nicht um die ganze Welt reisen, um das zu finden, was man sucht.
Hier ist unser Panama, wirklich, kleiner Bär. Hier möchte ich sein. Und hier
möchte ich bleiben!“.
Als
die beiden an Weihnachten schließlich neugierig ihre zwei kleinen Geschenke
öffneten, strahlten sie vor Freude:
„Sieh
nur hier, kleiner Tiger. Der Weihnachtsmann hat mir einen kleinen Tiger
geschenkt!“ –
„Und mir einen kleinen Bären!“ –
„Das
ist perfekt, das haben wir uns schon lange gewünscht, stimmts, kleiner Tiger ?“
–
„Ja, das stimmt. Jetzt haben wir alles,
was wir zu unserem Glück brauchen. Wir wissen, dass es den Weihnachtsmann wirklich
gibt. Er wohnt gleich hier, um die Ecke. Oder sogar in unserem Kamin. Und er ist
rot. Er ist wirklich rot.“ –
„Vielleicht
ist er ein alter Mann, mit einem langen weißen Bart, so, wie auf all den
Bildern in all den Büchern. Aber ganz bestimmt ist er rot. Und wir hätten ihn doch
gar nicht suchen müssen. Hier, wo unsere weite Reise begonnen und auch wieder
geendet hat, hier haben wir zuletzt gesucht. Und gefunden. Es war schön, dort
draußen, ja, wunderschön, überall. Aber Panama ist hier. Hier ist Panama. Hier
ist Sehnsucht. Hier ist Liebe. Hier ist Geborgenheit! Hier leben wir. Ich habe
alles, was ich brauche: Ich habe dich“, sprach der kleine Bär und malte ganz
langsam und vorsichtig ein rotes Herz auf den alten, kratzenden Rücken des
Tigers .
„Und ich habe dich.“ seufzte der kleine
Tiger mit einer kleinen, roten Träne in seinem Auge. „Frohe Weihnachten,
kleiner Bär!“ –
„Frohe
Weihnachten, kleiner Tiger !“
aus
RUE – Janosch - Weihnachten neu erzählt Dezember
2018
Angewandte Mathematik und linke
Gedanken: DAS SECHSSTUFIGE FÜNFMINUTENPROBLEM November 2018
(1) Wenn alle Schulen Firmen wären, konkreter: Wenn jeder Schüler einer jeden
Schule in Deutschland zu Beginn einer jeden Unterrichtsstunde auch nur fünf
Minuten durch Träumen, Auspacken, Essen oder einfach Nichtwollen vertrödeln und
eine vertrödelte Stunde mit 10,- Euro Trödellohn zu Buche schlagen würde, dann
würden all diese Schüler in nur einem einzigen Jahr Lohnkosten in Höhe von 10
Milliarden Euro „ver“wirtschaften.
(2)
Würde man hingegen die „restliche“ Lernleistungszeit entsprechend positiv
gegenrechnen, könnte das Bruttoinlandsprodukt in Deutschland pro Jahr 80
Milliarden Euro höher sein.
(3) Wenn wir nun wissen, dass andere Staaten längst nicht unser
Bruttoinlandsprodukt erreichen, dann könnte das unter Berücksichtigung von (2)
und (1) möglicherweise ganz einfach daran liegen, dass deren Schüler noch
länger brauchen, um zu Stundenbeginn zu träumen, auszupacken, nochmal ins Brot
zu beißen und einfach nicht zu wollen – und umgekehrt.
(4) Wir erkennen also, dass es gewissermaßen schon auf die entscheidenden „Fünf
Minuten“ ankommt. Wenn wir nun davon ausgehen, dass in vielen Firmen ähnliche
Trödelverluste buchhalterisch nicht erfasst werden, können wir uns recht
einfach und anschaulich erklären, wodurch eine Wirtschaftskrise tatsächlich ausgelöst
wird.
(5)
Denkt man am Ende über wirtschaftliche Reformen nach, müssen
betriebswirtschaftliche Verschlankungsprozesse demnach lediglich darauf zielen,
möglichst viel sinnloses und sinnlos teuer bezahltes Gerede in einer Firma
abzuschaffen, statt Arbeitsplätze wegzurationalisieren oder betriebsinterne
Abläufe zu verändern und zu glauben, sie wären besser, notwendiger und
gewinnbringender. Weiß man nun, dass Gehälter auf höchster Leitungsebene um ein
Vielfaches höher sind als Schülergehälter oder Mindestlöhne für einfache Arbeit,
dann weiß man weiter, welches Problem wir in diesem Land wirklich haben und
warum nie genügend Geld für Schule und Bildung zur Verfügung steht.
(6)
Wären Schulen oder einfache Arbeit in Sachen Lohnniveau hingegen höher
bewertet, oder würde man Schülern finanzielle Anreize schaffen, ihre Lernzeit
eben nicht durch Träumen, Auspacken, Essen oder einfach Nichtwollen zu
vertrödeln, sondern effektiver zu nutzen, könnte Schule oder einfache Arbeit
rein rechnerisch deutlich wertvoller sein, gewinnbringender wirtschaften und
letztlich ein Mehr an Unterricht oder Arbeitszeit für einen klaren Konjunkturschub
sorgen.
aus: RUE – Trödeln ist menschlich – oder:
Wer rechnet schon mit dem Schelm ? November
2018
THE TIMES, THEY ARE CHANGIN´
- ARE THEY ? - VOLLEYBALL November 2018
Ich
habe es ja schon groß an jede Wand gesprüht. Und jeder hat es gelesen. Einst
war ich ein großer Sportsmann. Alle kannten mich, jeder Gegner fürchtete mich.
Ich mich auch. Vor mir selbst. Rüdiger, du musst aus den Knien kommen. Baggern,
das ist nicht mit den Armen, das ist Bewegung, Eleganz, Präzision. Wer nicht
aus den Knien kommt, der kann einen Ball nicht kontrollieren. Vier bis fünf.
Der lernt es nie. Aus. Vorbei. Die Karriere. Aus. Vorbei. Die Lust.
Nein,
diese Note im Sportunterricht war erst der Anfang. Den Spaß ließ ich mir nicht
nehmen. Und ich entwickelte meine eigene Kultur. Volleyball spielen konnte ich
nie. Volleyball kämpfen schon. Ich rannte und flog und flog und rannte. Nach
links, nach rechts, nach oben, zack, das Netz getroffen, den Gegner k.o.
geschlagen. Einer gegen alle. Alle gegen einen. Zwanzig war ich damals. Und ich
war mir nie zu schade, mit den Knien den Boden zu putzen und wieder mit Löchern
in der Trainingshose nach Hause zu kommen. Und in Wirklichkeit ging es auch
überhaupt nicht darum, zu gewinnen. Wir rannten, hatten Spaß und hinterher
waren wir fertig. Fertig und glücklich.
Zehn
Jahre später war ich Teil einer grandiosen Truppe im Schwarzwälder Dornstetten.
Lehrersport. Da war ich wieder. In meinem Element. Ich rannte und flog und flog
und rannte. Nach links, nach rechts,
nach oben, zack, das Netz getroffen, den Gegner k.o. geschlagen. Gekämpft ja,
aber gespielt habe ich längst nicht mehr so gut. Längst trug ich eine Brille,
hatte Mühe mit präzisen Schlägen und musste mich irgendwie damit abfinden, dass
längst nicht mehr jeder Ball sitzt, dass ich schon längst nicht mehr jeden Ball,
der auf mich zuflog, erreichen konnte. Aber in Wirklichkeit ging es natürlich
überhaupt nicht darum, zu gewinnen. Wir rannten, hatten Spaß und hinterher
saßen wir gemeinsam beim Griechen, hatten unseren Gyros-Teller mehr als
verdient und bei einem kleinen Ouzo den verlorenen Bällen nachgetrauert. Stimmt:
Wir waren einfach nur fertig. Fertig und glücklich.
Zehn
Jahre später war ich längst Vater von zwei kleinen Kindern. Und manchmal fragte
ich mich, was wichtiger sei: Sport oder Schlaf ? Längst war ich nicht mehr so
präsent, nicht dabei und auch nicht drin. Im Spiel. Jede Ausrede passte, wenn eine
Stunde Schlaf zusätzlich möglich war. Aber wenn ich da war, dann war ich da.
Voll. Und ganz. Ich rannte und flog und flog und rannte. Nach links, nach rechts, nach oben, zack, das
Netz getroffen, den Gegner k.o. geschlagen. Noch immer. Aber das, was vormals
nahezu blinde Begeisterung war, was wie ein zwanghaftes „den hast du“-Gehabe
wirkte, wurde immer mehr zu weitsichtigem Kalkül. Nein, den bekommst du eh
nicht. Nein, der geht sowieso nicht mehr ins Feld. Okay, den hättest du schon
noch haben können, aber dazu hättest du dich bewegen müssen. Also gut, der war
klar im Feld. Nein, klar außerhalb. Die Sprüche waren längst andere. Die Taktik
ebenso. Kräfte sparen. Haushalten. Zwei Stunden Training sind eine lange Zeit. Und
außerdem: In Wirklichkeit ging es natürlich überhaupt nicht darum, zu gewinnen.
Wir rannten, hatten Spaß und hinterher waren wir fertig. Fertig und glücklich.
Zehn
Jahre später spiele ich noch immer. Immer seltener. Aber immer noch. Die
Knochen schmerzen mittlerweile schon vorab. Die Wege sind weiter, das Netz
hängt längst zwanzig Zentimeter höher und der Ball landet schon gar nicht mehr
in meinen Händen, obwohl mir ganz sicher bin, ihn immer wieder dort zu spüren.
Da fällt er. Links von mir. Rechts von mir. Vor mir. Hinter mir. Auf den Boden,
immer auf den Boden. Ich renne und fliege und fliege und renne. So wie damals.
Nur etwas langsamer. Noch langsamer. Mühsamer. Noch mühsamer. Baggern ins
Leere, Schläge ins Netz. Asse – Fehlanzeige. Und als Steller ? – Ein
Totalausfall. Damals mit 20 hätte ich ihn gehabt, mit 30 wenigstens gekämpft,
mit 40 gesehen, ob er aus war oder nicht - und heute ? Ich stehe auf dem Feld. Schmerzen.
Nur noch Schmerzen. Schon beim Gedanke an ihn, den Hechtbagger, und beim
Anblick dieser, meiner Hose mit Löchern. Das Gespött der Mengen wird größer,
das Pfeifen der Zuschauer auf den Rängen auch. Doch den Spaß lasse ich mir
nicht nehmen. Und ich lebe sie, meine eigene Kultur. Und mal erhrlich: Geändert
hat sich so manches, aber in Wirklichkeit geht es wirklich nicht darum, zu
gewinnen. Wir rennen, rennen, solange wir können, haben Spaß und hinterher sind
wir fertig. Einfach nur fertig. Fertig und glücklich. Noch immer.
aus
RUE – Im Wandel der Zeit November
2018
IN VOLLEN ZÜGEN November 2018
Es
muss kurz vor Köln gewesen sein. So ein Fensterplatz war einfach klasse. Und so
ein Abteilwagen sowieso. Grünbraune Sitze, gut gepolstert, bequeme Rückenlehnen
und Platz genug. Platz für die Beine, Platz für das Gepäck. Aus heutiger Sicht
zwar etwas rustikal. Aber ich habe sie geliebt, diese blau-beigen Abteilwagen
der damaligen Intercity-Züge. Drei und drei. Auf jeder Seite Platz für drei
Reisende. Wer zuerst kam, der saß am Fenster, vorwärts, dann am Gang vorwärts,
am Fenster rückwärts und ebenso am Gang. Die mittleren Plätze hingegen blieben
meist frei. Zu viert in einem Abteil, das war fast wie reisen in der 1. Klasse.
Am Fenster orangefarbene, oft zerknitterte dünne Rolläden, die wir je nach
Sonnenstand so weit nach unten gezogen hatten, dass wir gerade noch zwischen ihnen
und der Abteilwand durch die schmutzigen Scheiben schauen konnten und die
Häuser dieser anderen Welt an uns vorbeirauschen sahen. Irgendwann, nachdem wir
die Südstadt hinter uns hatten, sahen wir ihn. Den Dom. Welch ein großes,
imposantes Bauwerk, schon aus der Ferne. Und welch ein Leben, welch ein Tumult,
welch ein Treiben bei der Einfahrt in den Hauptbahnhof. So saßen wir in diesen
vollen Zügen, unterwegs, einmal quer durch Deutschland und zurück. Auf der
Suche nach dem großen Erlebnis. Nach dem Kick. Und wir fuhren – hoch und runter.
Jeden Tag. Wir fuhren von Nord nach Süd, von Ost nach West, und wenn es heiß
war, öffneten wir die Fenster. Das war noch möglich, damals. Raus den Kopf, einmal
tief durchgeatmet. Das war sie, die weite Welt. Das war er, der Geruch der
Schienen, der längst abgestellten und grau verstaubten Dampfloks, der anonymen Massen,
der pulsierenden Großstädte. Fast so, als wären sie alle Zigaretten, die wir um
jeden Preis rauchen mussten. Welch ein Leben ! Und wir genossen es, in vollen
Zügen !
Unterhalb
der Fenster gab es diese kleinen Klappbrettchen, die genau reichten, um die
obligatorische Packung Butterkekse abzulegen und die geliebte, ebenfalls
orangefarbene Mirindadose abzustellen. Ich weiß nicht mehr wirklich, wie
versifft diese Lieblingsjeans längst war. Aber ich habe sie geliebt, hätte sie
für niemand und nichts hergegeben und nur wenn es wirklich nötig war, flog sie
in die Wäsche. Oben trugen wir Poloshirts. Meist gestreift, gegen den Dreck.
Blau-weiß-hellbraun und wieder blau-weiß-hellbraun. Nicht wirklich modern, aber
praktisch waren sie auf jeden Fall, diese Kleider. Und dann packten wir ihn
aus. Den ultimativen neusten Schrei, den wir damals alle hatten, ja unbedingt haben
mussten. Den Walkman mit Kassettenteil. Grundig. In hellbraun. Mit Lederetui. Und
je größer der Kopfhörer, desto cooler waren wir. Batteriebetrieben, nicht
aufladbar, aber volle Leistung – und volle Geschwindigkeit. Schnell liefen sie,
die Dinger, und gerockt haben sie - zumindest solange die Batterien voll waren
... Gehört haben wir Deutschrock. Oder zumindest nannten wir es so. Nemm mich
mit, einfach mit, irjendwohin, wohin weiß isch nit ... Wir schrieben das Jahr
1983, ich war 15, und BAP hatten gerade ihr erstes Livealbum „Bess demnähx“
veröffentlicht, auf dem mehrere neue Songs zu finden waren, unter anderem eben auch
dieses Stück. Wir liebten es und wir sangen es. Wieder und wieder. In vollen
Zügen ...
Satte
35 Jahre später, am 2. November 2018, erschien dieser Titel, den ich mir damals
als „Soundtrack meines Lebens“ auserkoren hatte, erneut auf einer Live-CD der
Kölner Band. Dieses Mal mit Gebläse. Manchmal musste ich aufpassen, dass ich
sie nicht aus den Augen verlor, diese Band. Die Züge fuhren schneller, und auch
die Uhren brauchten für die Stunde, für den Tag, für das Jahr, nicht mehr so
lange, wie das früher einmal war. Den geliebten Walkman gibt es indes längst
nicht mehr - und eine Kassette ? Meine Kinder wissen schon gar nicht mehr, was
das ist ... Der Abteilwagen wurde längst durch sterile Großraumwagen abgelöst
und offene Fenster im Zug sind mittlerweile aus Sicherheitsgründen tabu. Längst
habe ich ihn, den Abteilwagen, gegen ein Auto eingetauscht. Polohemden sind zwar
hin und wieder trendy, aber wer ein solches trägt, fällt eher auf. Selbst die
Jeans kommen heute, da wir endlich erwachsen sind, ein paar Tage früher in die
Wäsche. Und statt Mirinda trinken wir längst Johannisbeerschorle.
Heute Morgen stand ich an der großen Kreuzung in Richtung Norden, und gerade
als ich am Abbiegen war, fing er an zu singen. Mein Lied. Der Held meiner
Jugend. Nemm mich mit, einfach mit, irjendwohin, wohin weiß isch nit ... Das alte
Tonwerk zu meiner Rechten war plötzlich der Kölner Dom, die Scheinwerfer der
Autos, die mir entgegen kamen, wurden zu Großstadtlichtern und ein jedes von
ihnen war plötzlich wieder blau-weiß und fuhr auf Schienen. Ich drehte den
Regler nach rechts, ganz weit nach rechts. Und es rockte und groovte, noch lauter
und besser als damals. Für einen Moment war ich am Träumen, für einen Moment
war ich wieder 15 und neben mir lagen sie, die Südstadt und der Hauptbahnhof. Unfassbar,
wie die Zeit vergeht. Unfassbar wie sie bleibt, die Erinnerung. Da war er
wieder, der Soundtrack meines Lebens. Retro. Und ich genoss ihn. Ich genoss
diesen Augenblick. In vollen Zügen ...
aus:
RUE – Erinnerungen November
2018
PLATTFORMEN UND BEKENNTNISSE Oktober 2018
Nun
bin ich doch platt. Völlig. Geplättet. Ein Platt vor den Mund. Man will uns
also ein Platt vor den Mund halten. Noch unglaublicher, noch plättender, dass
da irgendwer tatsächlich auf die Idee kommt, diese Partei wolle uns den Mund
verbieten. Unglaublich, dass da jemand denkt, sie wolle uns kontrollieren, die
Partei. Ah ! Eff ! Deh ! Welch Schmährufe in einer bunten Republik.
Naiv
zu glauben, dem wäre so. Eine Plattform gegen rechts. Eine gegen die, die
rechts sind, oder auch dagegen. Und noch eine. Diesmal gegen links. Gegen die
Mitte. Gegen hier und gegen da. Gegen Vieles oder Manches. Gegen den Weltatlas,
gegen Pythagoras. Gegen irgendetwas. Hauptsache dagegen. Nicht dafür. Aber
konsequent, äußerst konsequent. Welch ein Slalom.
Gerade stelle ich mir vor, wie es wäre, wenn einer meiner Schüler rufen würde
„Kamuf, setzen ! Ich melde sie !“ . Herrlich. „Ja, das ist eine gute Idee“,
würde ich sagen. „Melde mich ! – Aber pass auf, dass du keine
Rechtschreibfehler machst. Das wäre nicht deutsch. Das wäre peinlich. Pass auf,
dass du ihn richtig schreibst, meinen Namen. Groß. An jede Wand. In großen
Großbuchstaben: KA – AH – EM – UH – EFF ! Oh, hoppla, Vorsicht, da stimmen schon
zwei Buchstaben überein. Den dritten schaffen wir auch noch“ – Ja, melden wäre
gut, würde ich mir denken. Wer SICH schon im Unterricht nicht meldet, der soll
wenigstens MICH melden. Nicht schlecht. Es wäre der erste Schritt einer großen politischen
Karriere. Über den Tellerrand. Ich wäre einer. Ich wäre bekannt. Staatsfeind
Nummer eins. Man hätte meinen Namen, und man wüsste, dass ich einer wäre, der
dagegen ist. Noch einer. Und wieder. Dagegen.
Herrlich,
ja es wäre herrlich, wenn nach wenigen Stunden nahezu eine Million Namen auf
dieser Plattform zu finden wären. Alle gemeldet. Nicht freiwillig. Kein
Geständnis. Nein. A-lles f-alsche D-eutsche. AfD eben. Herrlich, ja es wäre
herrlich, wenn wir alle, unmittelbar, beurlaubt würden und unseren Dienst nicht
mehr antreten dürften. Verlängerte Ferien und schon wieder das von jenen
kritisierte Missmanagement in Sachen Stellenplanung im Bildungssektor.
Kern
des Erziehungs- und Bildungsauftrags ist zunächst die Erziehung junger Menschen
zu Bürgern, welche die Werte einer breiten Demokratie schätzen und lieben lernen,
sich zu ihnen bekennen und letztlich für sie eintreten. Und dazu gehören sie
alle. Alle Parteien, mit egal wie vielen Buchstaben. Demokratie ist Vielfalt,
egal ob mit oder ohne. Demokratie ist, das Andere auszuhalten, das Wahre zu
erkennen und sich für das einzusetzen, wovon man überzeugt ist.
Ziel
des Erziehungs- und Bildungsauftrags ist weiter, die künftigen Wähler unseres
Landes zu mündigen und vor allem kritischen Bürgern zu erziehen. Manchmal
denken wir, dies sei unendlich schwer, womöglich nicht erreichbar. Weit
gefehlt. Keiner von uns hat es nötig, sich massiv gegen eine Partei
auszusprechen. Ich bin nicht dagegen. Ich bin dafür. Ich bin für das, wovon ich
überzeugt bin. Ich trete für das ein, was ich gut finde. Ich stehe dazu. Und
ich sage es.
Meine
Schüler brauchen keinen Lehrer, der über diese oder jene Partei schimpft. Meine
Schüler haben Augen. Sie können sehen. Sie haben Ohren und können hören. Und
sie können lesen. Drei Dinge, die absolut ausreichen, um kritisch über
politische Leitlinien diverser Parteien nachzudenken und letztlich zu wissen,
welche Partei sie wählen. Ich halte ihnen klein Platt vor den Mund. Und ich
möchte auch nicht, dass man mir ein Platt vor den Mund hält.
Im
Dialog entsteht Meinung. Ihn zu fördern, sehe ich als meine Aufgabe. Überparteilich,
ergebnisoffen. Und dennoch bin ich politischer Mensch, ein kritischer Wähler,
der eine Meinung hat, diese hinterfragt und sich bei Bedarf neu positioniert.
Ich wäre dankbar, wenn ich dies auch weiter tun dürfte – auch dann, wenn ich
doch eines Tages auf dieser Plattform gemeldet sein werde.
aus: RUE – Dafür ist nicht dagegen. Oktober
2018
SCHEIN UND SEIN August 2018
Dort
oben ist die Welt sauber. Frisch poliert glänzt ihr Lachen. Geschniegelt und
gestriegelt, in feinen Anzügen mit weißen Hemden und Krawatten werden große
Geschäfte gemacht. Man begrüßt sich nicht von Herzen, aber förmlich, loyal und
selbst wenn man dem Kollegen von nebenan gerne mal die Wahrheit sagen würde,
reicht es immer noch für ein schmerzloses kurzes „Mahlzeit“. Kein Mittagessen
ohne Serviette, kein Spaziergang ogne Aktentasche und keine Minute im Park ohne
diesen gestressten Blick auf das Smartphone. Der Wagen hat hundertfünfzig PS,
mindestens, oder mehr, und spätestens bei der nächsten Weihnachtsfeier treffen
sie sich doch wieder in der anderen Welt. Dann saufen sie wie die Löcher,
reißen Witze, über die seit Jahren keiner mehr lacht, und wenn es keiner merkt,
wird stillschweigend um die nächste Ecke gepupst und im Vollrausch an den
nächsten Baum gepinkelt.
Hier
unten ist die Welt schmutzig. Schmutzig, das wollen sie alle mal sein. Sich
gehen lassen. Einmal im Jahr. Oder zweimal. Die „Fünfte Jahreszeit“, Karneval.
Das ist doch die Woche, in der sie plötzlich alle nicht mehr wissen, ob sie
verheiratet sind oder nicht. Sechste Jahreszeit. Urlaub am teuren Strand in
Gottweißwo. Unter Palmen zwischen Tequila und Sunrise. Und dann mal so richtig.
Und zwar richtig.
Wir
leben manchmal zwischen Extremen. Wir suchen sie, die Ordnung, die Struktur,
die heile Welt. Und verlassen ihn dann wieder, unseren Weg, und sind eben nicht
mehr der, der wir sind. Eigentlich sind wir dann ganz anders. Wir sind so, wie
uns keiner kennt. Zumindest so, wie wir nicht wollen, dass man uns mit sauberen
Augen in dieser sauberen Welt sieht.
Das
aber ist sie nicht, die Welt hier unten. Der Kontrast ist ein anderer. Hier
macht man sich nicht schmutzig. Hier ist man schmutzig. Einfach. Bescheiden.
Kreide malt Hemden weiß. Edding malt Geschichten auf die Finger. Hier arbeitet
und lebt man von Herzen. Und hat Freude daran. Aus einem schnöden „Mahlzeit“
wird ein warmes „Moin“. Aus dem vernichtenden Blick zur karrieregeilen Kollegin
wird ein „gemeinsam schaffen wir das“. Hey, hier unten hat man Spaß an dem, was
man tut. Hier unten muss man sich diesen Spaß nicht erst wie in einem teuren
Freizeitpark generieren. Hier ist es einfach einfach. Hier bist du Mensch. Ein
Mensch, der so ist, wie er ist. Und der ankommt. Ohne Anzug, ohne Hemd und ohne
Krawatte. Oder noch einfacher: Meine hundertfünfzig PS sind ein kleiner roter Citroen
C3. Er stottert manchmal, aber er fährt.
Ob
mir etwas fehlt, hat man mich neulich gefragt. Ob ich gerne tauschen wollte.
Nein danke. Hier scheine ich nicht, hier bin ich. Und hier bleibe ich.
Meine
fünfte und sechste Jahreszeit hat gestern begonnen. Nach all den Wochen habe
ich wieder meine Brille abgesetzt. Gestern. Die Welt mit anderen Augen sehen.
Dankbar sein, in dieser anderen Welt leben zu dürfen. Nach drei Nächten unter
freiem Himmel auf meiner Terrasse tut mir heute mein Kreuz weh. So richtig.
Aber ist es nicht ein geiles Gefühl, nachts Katzenpfoten auf den Wangen zu
spüren und morgens unter Pfirsischen aufzuwachen ? Dort bin ich und dort bleibe
ich, zumindest in den nächsten drei Wochen. Musik klingt in meinen Ohren, Züge
fahren wieder im Kreis, der siebte Schlag beim Minigolft trifft, endliich, und
sogar Skatspiele werden endlich wieder gewonnen und dafür, ob die letzte
Gelenkstelle drei Minuten vor dem Läuten noch klappt, interessiert sich jetzt
erst mal niemand.
Ihr
dort draußen, lebt und liebt diesen genialen Sommer – ich verschwinde erstmal
für geraume Zeit auch aus dieser virtuellen Welt. Ohne Brille postet man nicht
wirklich gut und bevor ich diese Menschen mit Krawatte noch als solche erkenne
und wieder nur fragend den inneren Kopf schüttle, lass ich sie erstmal unten
...
aus:
Alles eine Frage der Perspektive RUE-
August 2018
HEIMATABEND Juli 2018
Schon
wieder: „Siesch denn do driwwe, Rennade ?“ – „Ha jo, Ernoa, denn schnabbe ma
uns!“ - „Siehst du den da drüben, Renate ?“ – „Ja, Erna. Den schnappen wir uns.“
- Vorsichtig drehte ich den Kopf zur Seite. Nach links. Nach rechts. Niemand. Da
war niemand außer mir. Zumindest keiner, der mir hätte die Show stehlen können.
Ich, Anfang Fünfzig. Renate und Erna mindestens, allermindestens Mitte 80 –
oder sogar darüber. Aber rüstig. Rüstig, was das Zeug hält. Und rotzfrech. Mich
schnappen. Diese zwei alten Schachteln. Mich ? Schnappen ? Unglaublich. Die
nächste kam von halblinks. Ob wir den Platz tauschen könnten, fragte sie mich.
„Ach, ich sitze hier ganz gut. Aber wenn Sie möchten, dann nehme ich Sie auf
den Schoß!“ – Das musste ich ihr nicht noch einmal sagen. Schwupp. Ach herrje.
Das waren nicht nur ein paar Kilo zuviel ...
Heute
war Heimatabend im Altenheim. Einmal im Monat. Sie kamen zusammen. All die, die
noch laufen konnten, oder zumindest sehen, nein wenigstens hören. Schon wieder:
„Den schnappen wir uns!“ – „Ja, den schnappen wir uns, Renate!“. Mich schnappt
keine. Und schon gar nicht in diesem Alter. Also in diesem ihren Alter. und
dann dieses Grinsen ... Eins muss ich ihnen lassen: Sie hatten sich ganz schön
rausgeputzt für diesen Abend. Immer putzen sie sich für solche Anlässe raus,
denn das, was mir reichlich fremd war, ist für sie mehr oder weniger die große
Chance. Frischfleisch. Endlich wieder Frischfleisch. Was sind schon dreißig
Jahre Unterschied, mochte man denken. Beim Schnappen ist das egal. Absolut
egal. Und ein abgehangenes Stück Fleisch mit etwas Paprika liefert im Gegensatz
zu jungem Frischfleisch seinerseits – in diesem Fall natürlich ihrerseits - eine
solide Grundlage für ein gutes Gulaschgericht ...
Zunächst
war es noch einmal gut gegangen. Das Programm begann, ein Stück auf der Geige,
eine erste Geschichte über die Zeit und wie es damals war. Früher, als das alte
Kino noch stand, das Freibad vom Sturm zerstört wurde oder Deutschland anno
1954 mit dem Gewinn der Fußballweltmeisterschaft endlich wieder wer war. Plumpsklos.
Badetage. Improvisierte Krankenhäuser. Ich lauschte diesen Worten gebannt.
Selbst mein Vater, der im Raum neben mir saß, verfolgte die Erzählungen mit
Spannung und, als wäre es noch nicht genug Nostalgie gewesen, wurde in der
Pause selbst zum Erzähler. Die Zeit nach dem Krieg, in der es noch keine
Waschmaschinen gab. Als man seine Dreckwäsche auf dem Leiterwagen gebündelt in
Richtung Wäscherei zog. Und wer kein Stück Holz zum Feuern dabei hatte, der
durfte – da war man hart - seine Wäsche nicht waschen.
Unglaublich,
wie schnell die Jahre vergehen. Wie rasant sich Technik entwickelt und mit
welcher Bequemlichkeit und Selbstverständlichkeit wir heute im Großen Saal
saßen und über ein Mikrofon verstärkte Anekdoten von früher zu hören bekamen. Schon
wieder: „Siehst du den da drüben, Renate ?“ – „Ja, Erna. Den schnappen wir
uns.“ – Allmählich wurde mir die Sache etwas unheimlich. Schließlich wollte ich
den Abend nicht kippen, nicht einmal stören oder im Notfall gar handgreiflich
werden. Klar war aber, dass die beiden zu zweit waren – und 50 Jahre gegen 160
eigentlich nicht wirklich eine Chance hatten.
Es
war ja nicht meine Idee, hierhin zu kommen. Aber wenn die eigene Tochter auf
der Geige vorspielt, dann machst du das schon mal. Und eigentlich war es
unendlich romantisch, im Halbdunkel zwei Meter vor der Bühne zu sitzen und so
zu tun, als wäre der Saal ausverkauft, als würde vor dir Mick Jagger „Brown
Sugar“ singen. Tat er natürlich nicht. Aber aufgefallen wäre er hier sicher
nicht. Und wäre er auf der Bühne gestanden, dann hätte es für Renate und Erna
eine echte Alternative gegeben.
Nach
der letzten Geschichte vor der Pause kamen sie näher. Noch immer kein anderer
Mann weit und breit, auf den sie es hätten absehen können. Klar, ich war recht
gut erhalten für mein Alter, aber ich für meinen Teil hatte es nicht so mit
Kukident und 47-11. „Siehst du den da drüben, Renate ?“ – „Ja, Erna. Den
schnappen wir uns.“ – Allmählich war es an der Zeit, einen Plan zu schmieden.
Der Notaus. Wo war er ? Welchen Knopf sollte ich drücken, um das Schlimmste zu
verhindern ? Mir stand der Schweiß auf der Stirn. Und ich wusste nicht, ob es
die Scheinwerfer im Raum oder die Hormone waren. Ihr Lachen kam näher. Näher.
Mit jedem Schritt kam es näher. Bis es breit grinsend vor mir stand. „Derfe mir
do mol fabei, do vorne denn Schduhl, denn breechde mir mohl. En unsam Alda
schdehd ma nimmieh sou lang !“ – Moment mal. Dachte ich völlig irritiert. Die
wollten doch ...
Nein,
die wollten gar nicht. Die wollten gar nicht mich ? Den Stuhl ? Nur diesen
kleinen, blauen Stuhl neben mir ? – Wie konnte ich nur so einfältig sein und
glauben, sie hätten es auf mich abgesehen ... Im Alter bringt man offenbar so
manche Dinge durcheinander. Und ich wusste in diesem Moment, dass ich nicht
mehr der Jüngste war. Der Abend jedenfalls hatte auf diese Weise eine weitere,
nein seine ganz eigene Geschichte. Und vielleicht wird man sie sich in einigen
Jahren beim nächsten Heimatabend mit einem Schmunzeln erzählen ...
aus:
Halbwahre Geschichten, die das Leben schreibt. RUE – Juli 2018
DIE FALLE UND DAHINTER Juni 2018
Nein.
Ein Verschwörungstheoretiker bin ich nicht. Das Leben ist Fiktion. Diese
Geschichte ist Fiktion. Aber wir wissen längst nicht mehr genau, wie weit wir
von ihr entfernt sind.
Da
steht sie also. Blau. Elegant. Schlank. Reizend. Klick. Die Falle. Da hätte man
auch früher drauf kommen können. Was hätte sie Geld gebracht, in all den
Jahren, seit ich hier lang fahre. Seitdem es sie gibt, achte ich weit mehr auf
mein Äußeres. Ich kämme mich seither. Morgens. Bevor ich zur Schule fahre. Man
weiß ja nie, ob und wann man dran ist. Ich bemühe mich sogar zu lächeln.
Freundlich zu lächeln. Ganz so einfach ist das nicht. Zumindest nicht immer.
Letzte
Woche hatte ich etwa achtzig auf dem Tacho. Und habe gebremst. Für sie. Nur für
sie. Was war das für ein Hupkonzert. Wilde Gesten. Mittelfinger. Kopfschütteln.
Seltsam. Am Tag zuvor, hatte mich einer mit hundertzwanzig überholt. An dieser
Stelle. Passiert ist nichts. Ihm nicht. Mir nicht. Und ihr auch nicht. Aber an
diesem anderen Morgen war der Ärger groß. Fast hätte es mich erwischt. Fast
hätte sie mich erwischt. Oder ihn. Vielleicht auch uns beide. Die Falle.
Ob
sie an dieser Stelle wirklich gut steht ? Ich habe meine Zweifel. Dreißig Meter
hinter dem Schild. Kurz vor der Ausfahrt. Da, wo es eigentlich wirklich egal
ist, wie schnell du bist. Weiter vorne, am Beschleunigungsstreifen, an der
Einfädelspur – dort wäre der richtige Ort. Ich frage mich, wer sich dabei wohl was
gedacht hat. Ich finde keinen. Nein, ich finde keinen, der sich überhaupt etwas
dabei gedacht haben könnte.
Ob
das eigentlich sein darf ? Ein Foto, von mir, so früh am Morgen ? Da war doch
etwas mit neuen Datenschutzrichtlinien ... Zugestimmt habe ich diesem Foto
jedenfalls nicht. Zumindest weiß ich nichts davon.
Die
Falle. Und das, was dahinter steckt. Nein. Es geht doch gar nicht um mich.
Nicht speziell um mich. Nicht um mein Foto. Nicht um das Bußgeld. Wenn es
blitzt, dann haben sie wieder einen. Dann sehen sie es wieder: das Haargel von
Taft, die Zahnpasta von Blend-a-med, ein Hemd von Lerros, Kaugummi,
Lutschbonbons und grünen Salat. Genau das ist es. Genau hierfür habe ich
Werbung. Immer. Und überall. Ein Flyer im Briefkasten. Ein dreifach gepolstertes
Kuvert. Eine Anzeige auf Ebay. Ein Hintergrundbild auf meinem virtuellen Kontoauszug.
Und jetzt endlich wird mir klar, warum. Blau, elegant, schlank. Sie ist keine
Geschwindigkeitskontrolle. Sie ist Überwachungskamera. Oder ein Stück noch mehr
Transparenz. Die Grenzen verschwimmen.
Seit
1984 sind ein paar Jahre vergangen. Es
läuft so ähnlich ab. Nur unauffälig. Und viel raffinierter gemacht. Sie
wollen es wissen. Alles wollen sie wissen. Und sie wissen es. Alles. Alles über
dich wissen sie. Du bist Teilnehmer am Marktgeschehen. Eben. Er geschieht, der
Markt. Und du nimmst teil. Aber steuerst du ? Steuerst du dieses Auto wirklich
noch selbst ? Und in welche Richtung ? Elektronischer Personalausweis. Mit
Online-Funktion. Bald auch für Kinder. Ab 12. Warum ? Wer braucht das ? Wer
will das wissen. Und wozu ? Eine Falle ? Und dahinter
Nein.
Ein Leben in Freiheit kann man nicht mit einem Passwort schützen. Aber es
existiert, das Passwort. Und ich wähle es. Selbst. Vielleicht „Vorsicht!“ oder
„AAchtung“. Mit Doppel-A. Das knackt keiner. Was es nützt ? Ob es nützt ? Ich
weiß es nicht. Was also wäre konsequent ? Eine andere Farbe ? Ein anderer
Standort ?
Vordergründig
ist sie eine faire Sache. Dieses Blau, direkt neben der Leitplanke, das musst
du erkennen. Man hätte sie auch grün getarnt hinter diesen Büschen verstecken
können. Nein. Das wäre unanständig. Du darfst den Teufel schon sehen, ehe er
dich auslacht und nach unten befördert.
Der Umgang mit dieser Geschichte fällt mir
nicht leicht. Aber ich trage mich zumindest mit dem Gedanken, mittags in
Zukunft eine andere Strecke zu fahren. Denn wenn sie mich eines Tages eine
Stunde früher blitzen würde sonst, käme dahinter noch einer auf die Idee, dass
es Hitzefrei gegeben haben könnte.
Nein.
Ein Verschwörungstheoretiker bin ich nicht. Das Leben ist Fiktion. Diese
Geschichte ist Fiktion. Aber wir wissen längst nicht mehr genau, wie weit wir
von ihr entfernt sind.
aus:
Kamuf, sei achtsam ! Juli
2018
BROT UND SPIELE UND JOGI UND ICH Die etwas andere Analyse Juni 2018
Ich frage mich noch immer, warum er mich nicht angerufen hat. Ich war im
Trainingslager in der Lüneburger Heide. Mit meinem Sohn. Warum ich mich nicht
anstrenge, hat er mich gefragt. „Ich strenge mich dann an, wenn mich Jogi Löw
anruft !“. Er war verblüfft. Kein Anruf kam, also strengte ich mich nicht an.
Ob
es etwas geändert hätte, ich weiß es nicht. Aber eine Alternative wäre ich
gewesen. Was wird da in den Medien alles geschrieben, was er offensichtlich
falsch gemacht haben soll. Ich war motiviert. Ich hätte gefightet. Gekämpft.
Mir das Hemd zerrissen. Für Deutschland und die Nationalhymne. Für meinen
Präsidenten. Aber er hat sich nicht gemeldet. „Vielleicht hat er ja deine
Nummer nicht, Papa !“ – Ausreden, alles nur Ausreden.
Wir
müssen ehrlich und fair bleiben. Es waren nur ein paar Zentimeter. Auch wenn es
nicht verdient gewesen wäre. Aber die Welt wäre dann in Deutschland sicher eine
ganz andere gewesen. Kroos – Latte. Brand – Pfosten. Mensch, wenn die Dinger
reingegangen wären. Der Jubel wäre grenzenlos gewesen.
War
er nicht. Konnte er auch nicht. Die Spieler waren satt. Deutschland war satt.
Andere dürfen auch mal gewinnen. Müssen auch mal gewinnen. Und das Fußballvolk
sah das auch so. Wo waren sie, die Fahnen an den Autos, die schwarz-rot-golg
geschminkten Gesichter, die Deutschlandtrikots mit den neuen Helden ? Ich habe
nur alte Trikots gesehen, Hemden von alten Männern: Klose, Schweinsteiger, Lahm
– neue Namen Fehlanzeige.
Nein
Jogi Löw hat nicht alles falsch gemacht. Aber eben auch so manches nicht
richtig: Eine Aufstellung, die Pässe mit unbekannten Adressaten mit nicht
frankierten Bällen in längst markierte Zonen spielt, das war sicher zu wenig.
Ein Grund für einen Rücktritt ist das aber lange nicht. Ja, das Volk schreit.
Endlich. Verlierer brauchen Opfer. Und Opfer Nummer eins scheint wie so oft der
Trainer. Der deutsche Fußball hat Jogi Löw immerhin viel zu verdanken.
Vielleicht hat er sich verzockt – aber haben sie alle für ihn, für uns
gekämpft, haben sie wirklich gewinnen wollen ? Es war nur schwer zu erkennen
und oft sah es nicht so aus. Deutsche Arroganz. Vielleicht. Abwehrfehler.
Vielleicht. Aber wer kein Tor schießt, der kann kein Spiel gewinnen. Und wenn
der Abwehrspieler die einzigen Chancen des Spiels hat, fragt man sich, wo
eigentlich welcher Stürmer auf dem Platz stand.
Ja,
es war dieser winzig kleine Fehler, mich nicht anzurufen. Ich hätte gespielt.
Links, rechts, vorne, hinten, im Tor. Und den Text der Nationalhymne ? Ich
hätte ihn gekonnt.
Was
bleibt ist Zeit. Plötzlich haben wir wieder Zeit und können uns um andere Dinge
kümmern. Was ist eigentlich wichtiger ? Merkels Regierungskrise, die Wahlen in
der Türkei oder das Vorrundenaus bei einer Fußball-WM ? Das Volk braucht Brot und
Spiele. Schon immer. Brot gibt es zur Genüge. Die Spiele sind vorbei. Nun heißt
es Vorsicht: Der Löwe brüllt nicht nur. Er beißt. Und vielleicht frisst er
sogar. Mit einer Fußball-WM im Rücken, mit einem weiteren Stern auf der Brust,
hätten wir gar nicht mitbekommen, dass es zwischen Merkel und Seehofer brodelt.
Holzauge sei wachsam. Nun kommt es, das Sommerloch. Und wenn es nichts mehr zu
sagen und zu schreiben gibt, braucht man weitere Opfer. Jogi raus ? Merkel raus
? Nein. Aber das Augenmerk der Öffentlichkeit wird in den nächsten Tagen und
Wochen wieder auf andere Themen gerichtet sein. Und davor sei gewarnt.
Ich
bin nun fünfzig. Vielleicht zu alt für Jogis Jungs. Aber wenn er mich anruft,
dann werde ich trainieren und meine kleine Chance auf einen Stammplatz beim
nächsten WM-Team wahren. Und wenn er, wer auch immer, nicht anruft, dann wissen
wir bereits heute, wer in vier Jahren nicht Weltmeister sein wird.
aus:
Kamufs Kolumne Juni
2018
DER KAISER VON CHINA Mai 2018
Es
gab sie. Die magischen Momente. In meiner Kindheit. Einige davon sogar in der
Schule. Was freuten wir uns auf den Tag, an dem sie „Wir gehen heute in den
Filmraum!“ rief. Nein, das passierte nicht täglich. Immer wieder mal, sehr dosiert
eingesetzt. Und wir verschlangen ihn. Diesen Film. Jeden Film. Dunkel war es in
diesem Raum. Die Fenster konnten mittels Rollo so abgedunkelt werden, dass
außer dem Film nichts, aber auch gar nichts mehr zu sehen war. Tische gab es
keine in diesem Raum. Nicht schlecht. Nichts schreiben. Endlich nichts
schreiben. Einfach nur schauen und am Rattern des Projektors merken, dass der
Moment echt war. Kino. Kino in der Schule. Klasse war das. Ab und zu passierte
es – und wir wussten, wir hatten gewonnen: Er riss, der Film. Er musste frisch
eingefädelt werden. Und das kostete Zeit. Viel Zeit. Genug Zeit, dass die
Stunde gelaufen war. Das kapierten wir sogar schon in der ersten Klasse. Die
Helden des Films: Karius und Baktus. Oder: Wie du deine Zähne richtig putzt.
Nachhaltig war er nicht, der Film, denn die Zähne sind längst kaputt. Viel zu
früh. Und von vielen von ihnen habe ich mich längst verabschiedet. Aber er war
der Hammer, dieser Film. Und wir gingen stolz nach Hause. Und erzählten davon.
Und wir merkten uns, um was es ging. In diesem Film. Der große Moment war
stets, als wir am Ende des Film „Rückwärts, rückwärts, rückwärts!“ riefen. Und
ab und an tat sie uns den Gefallen. Man konnte den Film tatsächlich rückwärts
laufen lassen. Ohne Ton. Aber das machte nichts. Krass, am Ende waren die Zähne
wieder wie neu und ich hatte verstanden: Putzen brauchst du die nicht.
Neulich
haben wir im Unterricht den Kaiser von China behandelt. Mit Filmen brauchst du
da nicht mehr kommen. Filme – die laufen täglich. Zwar nicht rückwärts, aber
immerhin. Und wenn sie dir zu langweilig sind, dann drückst du sie weg. Ein
Kinderspiel. Ein Ausflug nach China – in einer globalisierten Welt eine kleine
Sache. Das wäre es gewesen. Ein Ausflug nach China. Aber was nützt dir ein Ausflug
nach China, wenn der Kaiser gerade wieder auf Staatsbesuch in anderen Ländern
ist. Also brauchte ich andere Idee. Ich habe ihn eingeladen. In meinen
Unterricht. Und er kam. Krass. Ein wenig nervös war ich schon, war mein
chinesisch doch nicht wirklich exzellent. Eine Brezel mit Stäbchen in der Pause
– ich weiß nicht. Wasser. Mit Wasser kannst du nicht viel falsch machen. Wenn
du es nicht gerade mit Stäbchen servierst. Erwartet hatte ich einen Mann mit
Krone, in feinen Kleidern, mit Trara und Tätä. Weit gefehlt. Ein einfacher Mann
betrat das Klassenzimmer und ich war gespannt, was alle zu fragen hatten. Ja,
ich war gespannt. Und gespannt und gespannt. Und gespannt. Also wirklich
gespannt. Wir fassen zwischenzeitlich zusammen: Der Kaiser von China ist besser
als Mathe, aber er reißt nichts. Im Klassenzimmer war es warm und gemütlich,
alle hatten gegessen und einigen steckte noch das letzte Wochenende in den
Knochen. Die STühle standen im Halbrund. Chill-out-Atmo vom Feinsten. Man hätte
ihn schon verstehen können, den Kaiser. Chinesisch ist gar nicht so chinesisch,
wie es manchmal scheint. Aber man hätte ihn verstehen wollen sollen. Und das
mit dem „wollen sollen“ war so eine Sache. Zu früh am Morgen. Nun. Er erzählte
von damals und heute, von früher und jetzt, von hier und da, ein wenig blabla,
manchmal auch blublu und so. Anton schlief mittlerweile. Paule schaute aus dem
Fenster. Und Harry verabredete sich per „whats-app“ für die große Pause.
Da
war er wieder. Der magische Moment. Jetzt, Jahre später. Karius und Baktus –
was waren sie klasse. Das hatten wir nicht alle Tage. Der Kaiser von China. In meinem
Unterricht. Stundenlang hätte ich ihm zuhören können. Und wenn ich etwas nicht
verstand, dachte ich an damals. Rückwärts. Ja. Der redet bestimmt rückwärts.
Magische
Momente funktionieren wohl nur, wenn du sie zulässt, dachte ich mir. Wenn du
offen bist für den Zauber. Und wenn du es erkennst. Das Besondere.
Ich
weiß nicht, wie diese Stunde wirklich war. Was ankam bei ihnen. Was sie
berührte. Ob sie überhaupt etwas berührte. Möglicherweise war Einsteins Urenkel
erst letzte Woche im Pysikunterricht zu Gast. In Deutsch vielleicht der Dativ
oder der Nominativ persönlich. In Musik könnte es sogar der Akusativ gewesen
sein. Oder Mozarts Perücke. In Mathe der Leichnam von Pythagoras (ja, alter
Spruch, ich weiß, aber damit habt ihr nicht gerechnet). Vielleicht war es
einfach zu viel an diesem Tag. Wahrscheinlich war es zu viel. Insgesamt. Und
überhaupt.
Als
ich die Schüler am nächsten Tag fragte, wie sie den Besuch des Kaisers von China
fanden, schauten sie mich völlig entgeistert an: Das war der Kaiser von China ?
Hätten wir das gewusst, dann ... – Dann was ? – Dann wären einfach zuhause
geblieben. Der Kaiser von China, Herr K., der reißt nichts. Also zumindest ... Übrigens,
Herr K., können wir morgen einfach mal wieder in Ruhe schreiben ? Schreiben,
einfach so. Ohne viel Trara und Tamtam ? – Ich war erstaunt. Aber ich verstand
recht schnell, dass es damals großartig war, einen Film zu schauen. Und dass es
heute großartig sein muss, einfach nur zu schreiben. Das war krass. Absolut
krass. Aber mir war klar, dass genau die Dinge krass sind, die man nur selten
hat und mit denen man eben gerade – sorry - nicht rechnet.
Am
nächsten Tag schrieben wir. Alle. Und alle waren glücklich und zufrieden. Auch der
Lehrer. Anton, Paule und Harry lasen am Ende der Stunde vor, was sie
geschrieben hatten. Und plötzlich: Dieser Moment war – nein, ich hatte wirklich
nicht damit gerechnet – magisch. Absolut magisch. Zumindest für mich. Alle drei
Texte handelten vom Kaiser von China und ich war erstaunt, wie viel alle drei trotz
allem von diesem kleinen Staatsbesuch mitgenommen hatten.
aus:
Das Medium im Unterricht – damals und
heute. RUE – Mai 2018
KINDHEITSRÄUBER April 2018
Krieg
hatten wir damals. Die Stadt lag in Schutt und Asche. Das Essen war knapp und
auch sonst gab es nicht viel. Spielplätze ? Die Trümmerfelder in der Nordstadt
waren unsere Spielplätze. Wir sortierten ihn. Jeden Stein sortierten wir. Stunden
müssen es gewesen sein. Tante Martha sagte immer „Los Jungs, raus gehts,
aufräumen!“. Ich weiß nicht, ob wir verstanden, was wir da taten. Ich weiß auch
nicht, ob zu etwas gut war. Aber wir wussten damals, dass es ohne uns nicht
ging. Nein, wir konnten nichts dafür. Er wollte es eben wissen. Bis zum
Schluss, wollte er es wissen. Das hatten wir nun davon. Eine Schaukel ? Nein,
davon wagten wir nicht zu träumen. Eine Rutsche ? Die bauten wir uns selbst.
Material dafür hatten wir schließlich genug. Und wieder: „Jungs, vergesst euch
nicht, aufräumen!“. Ich weiß nicht, wie viele Stunden, gar Tage, nein Wochen
oder Monate es tagtäglich das gleiche Spiel war. Ja, irgendwie war es doch ein
Spiel. Auch wenn es manchmal mühsam war. Wir fanden Spaß daran. Wir übten uns.
An der frischen Luft. Im Staub. Im Dreck. Wir übten uns, durchzuhalten. Ja,
auch wir wollten es wissen. Jeder, jeder wollte der Stärkere sein. Wir übten
uns aber auch im Miteinander. Im Füreinander. Wir wussten damals nicht, was ein
Team ist. Aber ohne darüber nachzudenken: Wir waren ein Team. „Jungs, packt an,
das schafft ihr schon!“. – Wie recht sie hatte, Tante Martha. Sie wusste nicht
viel von der weiten Welt. Sie konnte kaum lesen oder schreiben. Viele konnten
kaum lesen oder schreiben in dieser Zeit. Aber ihr Herz. Das trug sie am
rechten Fleck. „Dieser Lump, das hätte alles nicht sein müssen!“ Ich verstand
nie, warum noch immer so viele sagten, dass sie gar nicht so schlecht gewesen
sei, die Zeit, als noch Ordnung herrschte im Land. Tante Martha dachte anders.
Sie war keine von denen, die ihm Jahre nach dem Krieg noch immer hinterher
trauerten. Sie und wir, wir hatten längst unsere eigene Ordnung. Keine
Hierarchie, nein. Hierarchien brauchte es nicht. Längst nicht. Wir erkannten,
was dieses Land wirklich brauchte. Wir wussten was zu tun war. Wir wussten es
für uns, wir wussten es für die anderen. Und so räumten wir auf.
Die
Leute sagen, man hätte uns unserer Kindheit beraubt. Das mag vielleicht so
sein. Am Ende, am Ende hatten wir mehr gewonnen als verloren. Uns wir hatten
sie zurück. Jahre später. Unsere Stadt, unser Viertel, unsere Straße. Ja, es
war unsere Stadt, unser Viertel, unsere Straße. Denn wir waren es, die sie
aufgeräumt hatten. Aufgeräumt. Diese glanzlosen, aber einfachen Spielplätze in
der Nordstadt.
Krieg
habt ihr heute. Die Stadt liegt in Schutt und Asche. Peng. Wieder auf den Knopf
gedrückt. Inszeniert. Und noch mehr. Fasziniert. Fasziniert von dem, was über
euren Bildschirm flimmert. „Rechts außen“, sagt Paul immer. „Rechts außen ist
der Knopf, mit dem du aufräumst!“. Den musst du einfach drücken. Wie man eine
Schaukel baut, eine Rutschbahn ? Moment mal, warte noch. Wenn du die Trümmer
hier weg hast, dann gibt es Bonuspunkte. Zwei, dann kannst du gleich zwei davon
bauen. Zwei Rutschen, zwei Schaukeln. Dann, dann passiert alles von alleine.
Zack. Schon ist Ordnung. Und zack. Schon ruft die nächste Mission. Rasen mähen.
Im Garten. Langweiliger Job. Moment mal. War das jetzt die Stimme eures Vaters,
die ihr grad gehört habt, oder ... Nein,
quatsch, das muss hier im Spiel gewesen sein. Ja richtig. Drittes Feld, der
grüne Daumen, ja, der ist es. Klasse, das ist jetzt aber mal sauber. Was jetzt
? Neue Missionen ? Gibt es nicht. Zeit für ein neues Spiel. Der
Teamgeisttrainer. Kostenlos. Kostenlos im Downloadstore. Ohne Werbung. Testen.
Dreißig Tage gratis. Ich weiß nicht, ob ihr versteht, was ihr da tut. Aber ihr
beherrscht es scheinbar perfekt. Gemeinsam den besten Platz finden, an dem der
Müll aus dem ersten Spiel entsorgt werden kann. Nicht schlecht. Anzahl der
möglichen Plätze: Einer. Damit es keinen Streit gibt. Das ist Teamgeist. Wirklich
nicht schlecht. Nein, ihr könnt nichts dafür. Ihr könnt nichts dafür, dass man
euch mit eben diesem Müll überhäuft. Dass ihr ihn nicht in den Griff bekommen
könnt - auch wenn es scheint, als hättet ihr hier längst alles im Griff. Alles.
Inszeniert. Das fasziniert eben. Nicht so wie der Garten. Rasen mähen ? Das
brummt doch nur, das knallt nicht. Und Bonuspunkte ? Nein, das Dankeschön eurer
Väter ist eben nicht so viel wie ein zusätzliches Leben. Aber ja, ihr wisst
schon, was zu tun ist. Und wir ? Wir haben sowieso keine Ahnung von dem was,
was ihr da Wichtiges tut. Aber je mehr ich darüber nachdenke: Irgendwie hat man
euch eurer Kindheit beraubt.
„Wo
das noch einmal hinführt ... “, fragte Tante Martha immer. Irgendwie hatte sie
es gewusst. Immer hatte sie es gewusst. Und wenn sie noch so schwarz sah –
Tante Martha hatte recht. Immer. Das. Wir wussten nie wirklich, was es war,
dieses „das“. Aber irgendwie war es fast ein wenig biblisch ... So wie ein
Gleichnis. Es passte auf alles. Immer. Und wenn unser Vater seine Miene verzog,
dann wussten wir: Jetzt ist Schluss mit lustig. Jetzt hören wir besser auf.
Sonst würde es uns schneller einholen, als wir laufen konnten, dieses „das“.
Dass
wir gemein wären, sagt ihr. Weg mit dem Ding. Einkassiert. Endlich Ruhe. Und
das Geschreie ist groß. Wie wir bloß können. Und überhaupt. Zu streng sind wir
... Keine Ahnungvon dem, was die Jugend heute so braucht. Drei Wochen kommt es
jetzt weg. Gemein ? Nein, konsequent. Und das Geschreie ist groß. Noch größer
als Momente zuvor.
Ihr habt den Vergleich nicht. Darum geht es. Nur darum. Ihr könnt es nicht
wissen. Wahrlich nicht wissen. Das, was wir tun. Wir müssen es tun. Nein, wir
nehmen euch nicht eure Möglichkeiten. Wir nehmen sie euch nicht, eure Zeit. Wir
geben sie euch. Zurück. Wir müssen es tun. Nein, wir nehmen sie euch nicht,
eure Verantwortung. Eure Verantwortung, für das was ihr tut. Wir passen auf
euch auf. Gut auf euch auf. Und wir geben sie an euch zurück. Für jetzt. Und
für später.
aus:
Zwischen Generationen - was ich euch noch sagen wollte ... RUE
– April 2018
JUDAS, PILATUS UND DIE ANDEREN April 2018
An diesem
dritten Tag habe ich
Gott getroffen.
Und er
fragte mich, wie es mir geht. Nun, es ist
nicht ganz einfach.
War es damals nicht. Und ist es
heute auch nicht.
Das letzte Abendmahl. Das Brot
brechen. Als Zeichen
der Verbundenheit. Als Zeichen
der Liebe. Das. Das verstehen wir alle.
Kreuzigung. Wie oft
schon habe ich diese Stelle gelesen. Am dritten
Tage auferstanden. Klar, so
war es. Ja. Wie auch
sonst ?
Doch je
öfter ich an diese Stelle komme, desto mehr
frage ich. Hinterfrage
ich. Und ich
entdecke Neues.
Judas. Was wäre
gewesen, wenn er ihn
nicht verraten hätte. Wenn ihn Jesu
Worte zur Umkehr bewegt hätten ? Ihn
wachgerüttelt hätten ? Ihn hätten
schweigen lassen ? So, wie er
es eigentlich wollte.
Pilatus. Was wäre
gewesen, wenn er
nicht so feige gewesen wäre ? Wenn er
sich nicht vor dieser Entscheidung gedrückt hätte ? Wenn er sie
nicht vor die Wahl gestellt hätte ? Ihn selbst freigesprochen
hätte ? Ihn einfach
hätte gehen lassen ? So, wie er
es eigentlich wollte.
Die Anderen. Was wäre
gewesen, wenn sie
nicht käuflich gewesen wären ? Wenn sie nicht laut gebrüllt hätten. Gebrüllt,
was man ihnen gesagt hatte. Ihren Mund
gehalten hätten – oder ... einfach nur
gesagt hätten, wen sie
wirklich haben wollten ?
An diesem
dritten Tag habe ich
Gott getroffen. Und er
fragte mich, wie es mir geht. Nun, es ist
nicht ganz einfach. War es damals nicht. Und ist es
heute auch nicht.
Die
Osterbotschaft wäre sicher eine andere gewesen. Mittlerweile
ist mir klar: Nein, es
geht hier nicht nur um Nächstenliebe.
Es geht um Verantwortung.
Es geht
darum, das zu tun, was richtig ist. Was wichtig
ist. Was dein
Herz dir sagt. Aber auch
dein Verstand.
Folge ihm. Deinem
Herz. Mensch,
nutze ihn. Deinen
Verstand.
Aufgeklärter
Glaube ? Geglaubte
Aufklärung ? Klarheit
oder Glaube ? Glaube und Klarheit ...
Nein, meine
Seele - ist nicht geliehen. Kein
Traum – macht mich schwach. Ich
bleibe so - wie ich einst war. Ich geb
mich für niemand. Für
niemand und nichts. Ich geb
mich für niemand. Für
niemand und nichts.
An diesem
dritten Tag habe ich
Gott getroffen. Er lachte. Die Antwort
auf deine Fragen, mein Sohn ? Ich kenne
sie nicht.
Geh, und suche
sie in deinem Glauben. Suche, und
du wirst sie finden.
aus: Für niemand und nichts – Ostern neu gedacht RUE – April 2018
VERFALLSDATUM Februar 2018
Papa
– kann ich den Joghurt noch essen ?
Der
ist zwei Wochen über dem Verfallsdatum!
Ach,
bestimmt, das mit dem Verfallsdatum.
Das
darf man nicht so genau nehmen.
Schau
mal: Ich bin längst über dem Verfallsdatum.
Ich
bin längst verfallen, nein ich falle.
Zerfalle.
Vor
mich hin.
Die
Ersatzteile aus dem Mund.
Und
dann das Kreuz mit dem Kreuz.
Das
hatten auch schon andere.
Aber
klar, ich bin kein Heiliger.
Nicht
mal ein Scheinheiliger.
Aber
manchmal scheint mir so als ob.
Nein,
ich scheine.
Ich
bin sie, die Erleuchtung.
Da
funkelt es in meinem Mund.
An
allen Ecken und Enden.
Es
glitzert.
Schmimmert
silbern, als wären es Eiskristalle.
Ja.
Eiskalt.
Eiskalt
hat es mich wieder erwischt.
Schon
wieder.
Und
längst.
Halbwertszeit.
Halb-wärts-zeit.
Halb
wert – Zeit ?
Ab-wärts-zeit.
Schon
spannend.
Als
ich mich gekauft habe.
Es
stand kein Verfallsdatum drauf.
Aha.
Der
hält ewig.
Hab
ich mir gedacht.
Den
nimmst du.
Und
plopp.
Welch
ein Flopp ...
Vorsichtig
anfassen.
Nur
nicht kaputt machen.
Achtung,
zerbrechlich.
Die
Bilanz der letzten zwei Wochen ist dramatisch.
Dicke
Mandeln. Dicke Backen.
Nein,
bäcker geht es kaum.
Moment
mal.
Wie
war das gerade ?
Verfallsdatum
?
Habe
ich nicht gerade eben gesagt,
dass
man das mit dem Verfallsdatum nicht so ernst nehmen darf ?
Erst
probieren, dann wegwerfen.
Zu
schade, der ist doch noch gut.
Den
wirft man doch nicht einfach weg.
Rein
damit, Augen zu und durch.
Und
die noch verbliebenen Zähne ....
Einfach
mal zusammenbeißen.
Drauf.
Na
also, geht doch.
Und
schmecken, mit Verfall, nein Verlaub,
tut
es, nein er, nicht mal so schlecht ...
aus: Antilürik
RUE – Februar 2018
GEBEN und NEHMEN Januar 2018
Das
ist vielleicht eine Sache mit dem Geben und Nehmen. Da haben sie doch an Weihnachten
alle wieder ge-geben – und manchmal sogar mehr noch mit-ge-nommen als her-ge-geben.
Ein
fettes Fest. Ja, Feste muss man auch feiern, feste, und zwar so, wie sie
fallen. Also mal an-ge-nommen das Fest wäre nicht ge-fallen. Nicht so. Nicht
auf einen Sonntag. Hätte uns das dann auch ge-fallen ? Wahrscheinlich egal,
aber es war schon seltsam ohne Ende, dass am Anfang alle Welt darüber nach-ge-dacht
hat, ob sich da nicht ein paar Leute über-nehmen, wenn die Läden einfach offen
bleiben. Und dann pulvern wir an Silvester wieder tonnenweise Feinstaub in die
Luft. Unglaublich. Gibt es nur in Deutschland, solche Diskussionen, das liest
man immer wieder. Vorweg-ge-nommen hatten es schon so manche Kritiker. Aber
ge-geben hat es ihn dann wohl doch, den verkaufsoffenen Sonntag. Den ersten und
den zweiten. Letztes Türchen. Und letzter Tag. Seis drum. Ihr Kinderlein
kommet. Ja, die hat es dann wohl doch gefreut, dass es auch an diesen beiden
Tagen frische Brötchen ge-geben hat. Alle. Ihr Kinderlein kommet. Oh kommet
doch all.
Manch
einer nimmt sich Zeit, andere nehmen sich in den Arm und beim Festschmaus nimmt
sich dann jeder bitte doch nur das, was es für alle ausreichend gibt und was
auch wirklich gegessen wird. Da waren die Augen dann doch wieder größer als der
Hunger. Oder der Hunger größer als der Bauch. Ja, das gibt es wirklich. Nicht
jeder hat eben die Gabe, sich nur das zu nehmen, was er essen kann und zeitgleich
auch den anderen noch das zu geben, was sie brauchen. Trocken Brot. Mit
Rehgulasch. Nicht schlecht. Das gibt es dann manchmal drei Tage am Stück. Oder
vier. Wozu das führt ? Klar, so ganz ohne Bewegung von achtzig auf
fünfundachtzig. Kilo. In einem Zug. In einer Woche. Sauber. Und an dieser
Stelle landen wir dann in der dritten Dimension: Ab-nehmen. Ist jetzt angesagt.
Geben. Fünf Kilo für den, der sie selbst nicht auch zu viel hat. Her-geben.
Nicht weg-nehmen. Einfach nur. Aufhören. Ein böser Blick auf das Essen. Und
zack. Ver-geben-s. Von alleine. Schafft man das nicht. Mann schon gar nicht.
Aber
wenn wir alle, wenn wir alle alles geben, dann können wir das, was wir da
zu-ge-nommen haben, auch wieder her-geben. Vierhundert Millionen Kilo mehr –
oder weniger – und das allein in Deutschland. Das nimmt uns die Balance. Mir
aber gibt es Zuversicht. Ich mit euch. Und wir alle. Wir alle. Wir schaffen das
- wieder. Auch in diesem Jahr.
Genommen
habe ich. Zu-genommen. Jetzt wird geteilt. Jetzt wird nochmal ge-geben. Ihr
dürft euch gerne nehmen, was ihr braucht. Und wer sich zuerst nimmt, für den
gibt es das beste der fünf Kilos ... Ach
so: Ohne Gewährleistung, und vom Umtausch ausgeschlossen. Klar, Mann. Geschenke.
So wie bei den Königen. Damals. Geschenke. Die nimmt man gerne. Denn wer
schenkt, gibt von Herzen. Oder in diesem Fall ... auch einfach nur ... aus dem
Bauch ...
aus:
„Fünf Kilo später – glücklicherweise fällt der 6. Januar 2018 auf einen
Samstag“
in:
Kamufs Kolumne – Januar 2018
AUSSTIEGSKLAUSEL Dezember 2017
Wie gut, dass der Weihnachtsmann keine Ausstiegsklausel hat.
Das hätte uns gerade noch gefehlt. Einfach weg. Verträge machen und sie dann
nicht einhalten. Wo kämen wir denn da an Weihnachten hin ...
Fußball ist schon ein seltsames Geschäft. Dabei ein so wichtiges. Wir brauchen
sie, unsere Vorbilder. Kinder brauchen sie, ihre Helden.
Identifikationsfiguren. Kämpfer. Charaktertypen. Solche, die nicht dem Ruf des
großes Geldes folgen und dann einfach mal weg sind.
Ein Vertrag – was ist ein Vertrag ? Ein Versprechen ? Mehr
noch ? Ich hatte immer gedacht, dass der, der einen Vertrag schließt, es auch
ernst meint. Und dass der, der etwas verspricht, es auch hält. So wurde ich
erzogen. Und dafür bin ich dankbar.
Allmählich scheint es immer häufiger der Fall, dass man sagt,
man macht etwas, ohne es zu wollen. Ohne es wirklich zu wollen. Komm mich
besuchen – aber bleib mir bloß weg. Ich bleibe auf Jahre – aber nutze die erste
Chance, zu gehen. Lebenslänglich - eine Strafe ? – Nein, ein Geschenk. Wo sind
sie die geblieben, die Männer, die meinem Sohn Vorbild sein können ?
Oder ... wirst du ausgestiegen, obwohl du das gar nicht
willst ? Wirst du weggeschrieben, obwohl du noch immer da bist und eigentlich
gar nicht wirklich willst ? Die Macht der Medien ist eine unfassbar große. Du
liest Zeitung und erfährst Dinge über dich, die du noch gar nicht wusstest. Der
Weihnachtsmann ? Arbeitet jetzt bei Bayern München, nur weil er einen roten
Mantel trägt ? Unfassbar ! Das hätte er nie gewollt – und Bayern München auch
nicht. Nein. Der Weihnachtsmann ist zu Höherem berufen. Er kann nicht weg.
Quatsch, er will es auch gar nicht. Seit Jahren macht er seinen Job. Basisarbeit.
Und er macht ihn gut. Wahrscheinlich hat er auch noch gar nie darüber
nachgedacht, auszusteigen. Warum auch ? Weil er ihn liebt, seinen Job. Weil er
ihn von Herzen macht. Weil er dafür brennt. Und weil ihn umgekehrt die Menschen
lieben. So, wie er ihn macht, seinen Job. Heute hier, morgen dort ... ? Da gibt
es keinen Rauswurf, da wird nicht ausgewechselt. Da weiß man, was man hat. Da
weiß man, was man an ihm hat. Damals, als alles besser war, hätte er vielleicht
wirklich gerne für Bayern München die Pakete verteilt. Aber damals hätte er
auch sofort gewusst, dass diese Nummer nicht sein Ding ist. Pakete verteilen.
Nein. Fußballtrainer ist er, Fußballtrainer will er bleiben. Und das kann er
nur dort sein, wo man ihn Trainer sein lässt – Karriere hin oder her.
Ich habe keine Ausstiegsklausel. Ich wechsle nicht alle paar
Jahre den Job. Ich stelle mich den Anforderungen des Augenblicks, kämpfe und
wachse. Es ist nicht immer das Neue, das voranbringt. Es ist vielmehr eine noch
größere Herausforderung, das Alte durchzuhalten, das Versprochene zu erfüllen. Im
Trend, das weiß ich, liegt dies nicht.
Manchmal trifft man mit dem, was man schreibt, den Nagel auf
den Kopf. Autsch. Manchmal glaubt man an ihn, an den Weihnachtsmann. Manchmal
ist es sogar dasselbe. Eine Ausstiegsklausel, ihr Leute, gibt es nur dort, wo
es offene Türen gibt. Bald werden es 24 sein. Aber ich weiß genau, dass der Typ
im letzten Türchen einfach sitzen bleiben, mich angrinsen und mir eine „frohe
Weihnacht“ wünschen wird !
RUE - Dezember 2017
ZIPFELMÄNNCHEN November 2017
Und
als dem Weihnachtsmann dann an jenem Abend die Weihnachtsmänner ausgegangen
waren und unendlich viele kleine Christen, Moslems und Juden zuhause saßen und
bittersüße Tränen vergossen, fasste sich der Weihnachtsmann ein Herz. Die
Rentiere eingespannt, auf den Schlitten – und los ging es zum Supermarkt seines
Vertrauens. Coca Cola hatte die Rezeptur geändert. Nein, diese braune Brühe
schmeckte ihm schon lange nicht mehr. Nutella war nun weniger provokant und
kommt etwas heller daher und selbst die einst so leckeren Mohrenköpfe lagen
seit Jahren als Schokoküsse verkleidet in den Regalen
Wie
dem auch sei. Er zog seine rote Zipfelmütze, kratzte sich an seinen
silberfarbenen Haaren und suchte im Süßwarenregal nach Weihnachtsmännern.
Vergebens. Egal, welchen Supermarkt er betrat – nichts, nichts und wieder
nichts. Kein einziger Weihnachtsmann. In keinem einzigen Regal. Als er den
letzten Supermarkt auf dem Weg nach Hause kreuzte, fasste er sich ein Herz und
sprach die Verkäuferin an der Kasse an. „Weihnachtsmänner?“ – „Die gibt es
schon lange nicht mehr. Dort im Regal stehen Zipfelmännchen, die schmecken
gleich, sehen gleich aus und die Kinder werden sich genau so darüber freuen.“ –
„Das glaube ich nicht“, entgegnete der Weihnachtsmann. „Die sehen zwar so aus,
aber sie sind nicht echt !“ – „Was ist schon echt?“ fragte die Verkäuferin, die
schon gar nicht glauben wollte, dass der Weihnachtsmann vor ihr kein
Zipfelmännchen, sondern tatsächlich der echte und wahre Weihnachtsmann war.
„Nichts ist echt“, fuhr sie fort, „nichts ist echt. Der Weihnachtsmann ist eine
Erfindung von Coca Cola und diese Schokoladenfiguren sind reinste
Geldmacherei!“ – „Kann schon sein“, erwiderte der Weihnachtsmann „aber wenn ich
sie den Menschen bringe, wird ihnen warm ums Herz, Kinderaugen leuchten und die
Eltern der auch noch so frechen und faulen Bengel haben nach dem Entzug der
Playstation und nach der Handysperre noch ein letztes Druckmittel, mit dem sie
ihre Kinder dazu bringen, wenigstens einmal im Jahr Hausaufgaben zu machen.“ –
„Und ?“ – „Und deshalb werde ich nun, ob ich will oder nicht, einen Sack dieser
Zipfelmännchen kaufen und mein Glück in vorweihnachtlich geschmückten Häusern
versuchen.“
Gesagt, getan. Zunächst rutschte er durch den Schornstein in das Haus, in dem
fromme Christen lebten. Wie jedes Jahr wurde gesungen, gedichtet, gebetet, geschimpft
und gelobt und die Kinder in diesem Haus warteten gespannt auf das, was sie am
meisten mochten: Die Weihnachtsmänner aus Schokolade. Doch groß war ihre
Enttäuschung, als der Weihnachtsmann nur ein Zipfelmännchen aus dem Sack zog.
Tränen flossen und alle riefen: „Weihnachtsmann, Weihnachtsmann, wir wollen
keine Zipfelmännchen, wir wollen Weihnachtsmänner, richtige, schokoladige
Weihnachtsmänner.“ – „Wisst ihr Kinder, ich muss euch da etwas erklären:
Blabla, blabla ...“ – dem Weihnachtsmann fehlten die Worte und letztendlich
verließ er das Haus, ohne dass die Kinder verstehen konnten oder wollten, warum
aus den Weihnachtsmännern nun Zipfelmännchen geworden sind.
Danach rutschte er durch den Schornstein in das Haus, in dem gläubige Moslems
lebten. Wie jedes Jahr wurde gesungen, gedichtet, gebetet, geschimpft und
gelobt und die Kinder in diesem Haus warteten gespannt auf das, was sie am
meisten mochten: Die Weihnachtsmänner aus Schokolade. Doch groß war ihre
Enttäuschung, als der Weihnachtsmann nur ein Zipfelmännchen aus dem Sack zog.
Tränen flossen und alle riefen: „Weihnachtsmann, Weihnachtsmann, wir wollen
keine Zipfelmännchen, wir wollen Weihnachtsmänner, richtige, schokoladige
Weihnachtsmänner.“ – „Wisst ihr Kinder, ich muss euch da etwas erklären:
Blabla, blabla ...“ – dem Weihnachtsmann fehlten die Worte und letztendlich
verließ er auch dieses Haus, ohne dass die Kinder verstehen konnten oder
wollten, warum aus den Weihnachtsmännern nun Zipfelmännchen geworden sind.
Klar.
Wir wissen nun, wie es weiter ging, denn gleiches widerfuhr ihm im Haus der
jüdischen Kinder.
Das
letzte Haus, das alljährlich auf seinem Weg lag, war das Haus, in dem Anna und Pablo
lebten. Anna und Pablo waren keine Christen, auch keine Moslems, keine Juden.
Eigentlich, so hatte der Weihnachtsmann einst gelesen, haben ungläubige Kinder
keine Weihnachtsmänner verdient. Doch der Weihnachtsmann machte da keine großen
Unterschiede. Kinder sind schließlich Kinder. Und so brachte er jedes Jahr kurz
nach Mitternacht auch diesen zwei Kindern einen Scholoadenweihnachtsmann
vorbei.
Er
rutschte durch den Schonstein in ihr Haus, packte die letzten zwei
Zipfelmännchen aus und sprach verlegen: „Hier Kinder, hier - sind eure
Zipfelmännchen !“ – „Zipfelmännchen ? Das ist doch albern. Das sind doch keine
Zipfelmännchen. Das sind Weihnachtsmänner wie jedes Jahr!“ – Der Weihnachtsmann
hielt erstaunt inne. Waren seine Augen so schlecht geworden ? Er hatte doch
auch für Anna und Pablo Zipfelmännchen und keine Weihnachtsmänner gekauft. –
„Seid ihr euch sicher ?“ – „Ganz bestimmt, das sind Weihnachtsmänner – und zwar
so wie jedes Jahr.“ – Anna und Pablo waren glücklich, dass der Weihnachtsmann
auch dieses Jahr sie nicht vergessen hatte. Und der Weihnachtsmann seinerseits
war überglücklich, dass er wenigstens zwei Kindern eine Freude bereitet hatte.
Manchmal
ist es keine Frage, an was man glaubt, sondern dass man glaubt, dachte sich der
Weihnachtsmann. Und manchmal ist es auch eine Frage, ob man das glaubt, was man
selbst sieht, oder ob man das glaubt, was einem die Leute erzählen, sinnierte
er weiter.
Das
war in 2017. Glücklicherweise leben wir in 2050. Egal wann und egal wie sie
jemals hießen. Auch für mich, sagte sich der Weihnachtsmann, für mich waren,
sind und bleiben es immer: Weihnachtsmänner.
RUE – November 2017
Die Gummibärchentüten
September 2017
Seltsam ist es schon. Früher. Da gab es rote, gelbe,
orangene, grüne und weiße Gummibärchen. Die lebten zumeist zufrieden und
glücklich in Tüten. Nebeneinander. Miteinander. Und nie wäre einer von ihnen
auf die Idee gekommen, neidisch zu sein, dass ein anderer beliebter ist als ein
anderer und früher gefuttert wird. Damit sind wir alle groß geworden. So war
es. Und so hat es funktioniert. Jahrein. Jahraus.
Eines Tages kam man auf die Idee, blaue Gummibärchen
herzustellen. Und: Man packte sie gemeinsam mit all den anderen in die gleichen
Tüten. Die Reaktion war verblüffend: „Schon gehört ? Es gibt blaue Gummibärchen
! Die musst du mal probieren. Die schmecken anders ... Viel besser !“ – Und
plötzlich schien es, als wären die anderen Gummibärchen nichts mehr wert. Ja,
Neues macht neugierig. Das ist gut so. Wir haben sie probiert, die blauen
Gummibärchen. Wir haben aber auch gemerkt, dass es am Ende „nur“ Gummibärchen
waren. Und weil kaum einer von den anderen Gummibärchen mit ihnen spielen wollte,
verschwanden sie still und leise wieder aus den Beuteln.
Zugegeben: Am Anfang hatten alle anderen Angst, dass es
irgendwann nur noch blaue Gummibärchen geben könnte. Aber diese anderen haben
sich behauptet, durchgesetzt – Geschmack siegt ! Die Blauen waren wieder weg.
Nein. Nicht gejagt. Auch nicht verjagt. Das war nicht nötig. Manchmal setzt
sich Qualität, manchmal Altbewährtes eben durch. Dem ein oder anderen Käufer
fehlen sie vielleicht sogar, die Blauen. Aber wenn es keine gibt, dann wählt er
eben unter den anderen – und wird auch satt.
Zwei gute Wochen
September 2017
Ein Mann schenkte mir einst zwei Wochen. Die erste Woche schien, als dauerte sie ewig. Strahlende Sonne, blauer Himmel, die Füße im Wasser und immer wieder dort, auf dieser Bank. Ja, ein Mangoeis am Alpsee, das war etwas Unbezahlbares. Und Zeit, Zeit war keine Frage, Zeit war einfach da. Zeit genug. Zeit, den Gedanken der letzten Jahre nachzuhängen und einen neuen Status Quo zu bestimmen. Immer wieder mal. Nicht notwendigerweise, aber durchaus berechtigt. Sollte ich den Weg nach Missen nun über die Pfarralpe wandern – oder umgekehrt – oder besser doch überhaupt nicht ? Keine essenzielle Sache, aber eine durchaus berechtigte Frage. War da nicht für Mittwoch ein Gewitter angesagt ? Nein, ein Gewitter ? Ein Gewitter kann mich nicht. Niemals. Und selbst wenn – Gewitter, so meine Mutter früher, reinigen die Luft. Mittwoch ? Aber nein, es war doch erst Sonntag. Ewig, jede Sekunde, ewig jeder Moment. Groß sind sie geworden, die zwei. So groß, dass jeder von ihnen mittlerweile sogar zwei Kugeln Mangoeis auf einmal schafft. Mehrmals natürlich. Jeden Tag natürlich. Hoppla, damit hatte ich nicht gerechnet. Das geht ganz schön ins Geld. Aber was solls, alles war perfekt, eine perfekte Woche. Ich hatte sie, die Zeit. Ich hatte sie fest im Griff. Und alles, alles um sie fühlte sich unendlich leicht an. Ja, ich hatte sie, die Zeit.
Die zweite Woche schien, als dauerte sie ewig. Jähe Schmerzen plagten mich. Gut, so eine Schönheitsoperation tut vielleicht nicht wirklich Not, aber wer schön sein will, so meine Mutter früher, muss leiden. Und wenn der Schönheitsschlaf erstmal nicht mehr hilft, dann muss es her, das Messer. Ja, keine Falten mit achtundvierzig, damals, unterm Erdbeermond, das war nicht schlecht. Aber zukunftsfähig war das nicht. Ich welzte mich, von links nach rechts, zurück, im Kreis und wünschte mir nichts sehnlicher, als ein Kühlpack, das auch tatsächlich kühl bleibt. So ein Mangoeis, das hätte sicher geholfen. Aber ein Zehnereis ? Okay: Zwei, nein drei, nein vier ... Regenbogenfarbene Wangen, nein, damit gewinnst du keinen Schönheitswettbewerb. Lachhaft. ob ich eine Schlägerei gehabt hätte, fragen die mich doch tatsächlich. Wer schafft es schon, so zuzuschlagen, dass die Brille dabei heil bleibt ? Und dann das große Grinsen auf den Plakaten. An jeder Ecke. Auf dem Weg zum Arzt, und darüber, und darunter, und daneben und zurück. Grässlich. Damit gewinnst du doch keine Wahl. So lag ich da, tagein, tagaus, und tat mir selber leid. Unendlich leid. So unendlich leid. Aber so etwas von unendlich, wirklich unendlich leid. Sieben Tage Schlaf ohne zu schlafen, das muss mir erstmal einer nachmachen. Aber ewig jammern – nein - das - das nützte mir auch nicht viel. Das war mir klar. Irgendwann zumindest, war es mir klar. Sie hatte mich, die Zeit. Sie hatte mich fest im Griff. Und alles, alles um sie fühlte sich unendlich schwer an. Ja, sie hatte mich, die Zeit.
Als ich Tage später den Mann, der mir diese zwei Wochen geschenkt hatte, auf der anderen Straßenseite sah, fragte ich mich, was er sich wohl dabei gedacht hatte. Wie konnte er mich nach einer so unendlich guten mit so einer unendlich schlechten Woche bestrafen ?
Als er etwas später mit dem Krankenwagen abgefahren wurde, verstand ich, was er mir sagen wollte: Freud und Leid gehören zum Leben. Die wirklich gute Woche war nicht die erste. Die wirklich gute Woche war die zweite. Denn am Ende der Woche waren alle Schmerzen vergangen, es ging mir nicht nur gut, sondern ich sah blendend aus. Gesundheit, das war mir plötzlich wieder klar, ist das höchste Gut auf Erden !
PROBLEME ... August 2008
Das
Gutscheinproblem
Da war es also wieder. Dieses Heftchen mit diesen unendlich vielen
Gutscheinen. Was es bringt ? 10% Rabatt bei einem Einkauf ab 50 Euro. Aha.
Will uns also sagen, dass man bei einem Einkauf im Wert von 50 Euro satte
5 Euro spart und nur 45 Euro bezahlen muss. Aber ... Moment mal: Wenn man
nichts kauft, spart man sogar 45 Euro, denn man gibt ja kein Geld aus ...
Oh nein, noch besser: Wenn man den Gutschein einfach entsorgt und so tut,
als hätte es ihn nie gegeben, dann spart man sogar 50 Euro. Was wir daraus
lernen ? Ohne Gutschein spart man mehr als mit Gutschein - oder in anderen
Worten: Verzichte ich jede Woche auf einen solchen Gutschein und kaufe ich
mir nichts, macht das im Jahr 2500 Euro - oder in vier Jahren ein schicker
Gebrauchtwagen. Umsonst ! Ein Hoch auf alle weggeworfenen Gutscheine !
Das
Mehrwertsteuerproblem
Hieraus
resultiert ein ganz anderes Problem: Kauft man sich kein T-Shirt für 10
Euro, so zahlt man auch keine 19% Mehrwertsteuer, also keine 1,90 Euro an
den Staat. Wenn ich also letzte Woche das T-Shirt nicht gekauft habe,
warum habe ich dann bis jetzt immer noch keine Mehrwertsteuer vom Staat
erstattet bekommen ?
Das
Inflationsproblem
Da klingelt es
wieder. 17.30 Uhr - aha, der Eismann steht vor der Tür und möchte uns wie
jeden Tag eine Kugel Waldmeister, zweimal eine Kugel Nuss und eine Kugel
Pistazie, natürlich im Becher mit lila Löffel, verkaufen. Eine Kugel - 70
Cent. Nicht schlecht, denke ich mir. Damals, vor 35 Jahren kostete eine
Kugel 20 Pfennig. Und wenn man zwei kaufte sogar beide zusammen nur 30
Pfennig. Waldmeister und Nuss. Jeden Abend um 17.30 Uhr. Schon damals war
mir fast immer schlecht, nachdem ich das Eis gegessen hatte.
Milchallergie, versteht sich. Heute ist das noch immer so. Ärgerlich, dass
Bauchschmerzen mittlerweile so teuer geworden sind.
Das
Energieproblem
Endlich wieder ein Brief. Ich hatte schon gedacht, sie hätten es
vergessen. Aber nein. Ab November steigt der Gaspreis einmal mehr um 10%
... Oder in anderen Worten um etwa 10 Euro monatlich. Na da ist es aber
durchaus günstig, dass es ab November auch mehr Gehalt gibt. Etwa 30 Euro
werden das sein. Prima, dann könnte ja das Gas noch einmal 20 Euro teurer
werden. Wären da nicht der steigende Benzinpreis, höhere Stromkosten,
gestiegene Milch- und Lebensmittelpreise, höhere Versicherungsbeiträge,
kaputte Glühbirnen, defekte Computermäuse ... Ja, wären da nicht diese
anderen kleinen Geldschlucker, hätte ich mir glatt überlegt, ob ich
freiwillig mehr Abschlag für Erdgas bezahle und somit einer nächsten
Preiserhöhung zuvor komme ?!